Debattierseminare an der Universität Bamberg
Mehr und mehr sind Universitäten zu Einrichtungen der bloßen Wissensvermittlung geworden. „Was denn sonst?“, bekommt man zu hören, wenn man dies kritisiert. Hier die Antwort von Aristophanes: „Menschen bilden bedeutet nicht ein Gefäß zu füllen, sondern ein Feuer zu entfachen.“ Dass Rabelais, Montaigne oder Pestalozzi Ähnliches gesagt haben, bezeugt die Zeitlosigkeit einer Versuchung, der alle Bildungsbemühungen ausgesetzt sind: das Abfragbare, Niedergeschriebene, Klausurrelevante in den Vordergrund zu stellen und dabei den obersten Zweck zu vergessen: „The great aim of education is not knowledge but action.“ Im Grunde ist dieser Satz von Herbert Spencer nur eine weitere Variante des Zitats von Aristophanes.
Wie steht es darum in der Soziologie? Im Medizinstudium gibt es die klinischen Semester. Im dualen System der beruflichen Bildung in Deutschland wird das praktische Lernen im Betrieb mit der Berufsschule kombiniert. Aber worin könnte praktisches Lernen in der Soziologie bestehen? So gut wie alle soziologischen Studiengänge antworten darauf mit immer anspruchsvolleren Ausbildungsangeboten für empirische Forschungsmethoden.
Das ist nicht falsch, aber unzureichend. Das Handwerk der Soziologie ist mit dem Abschluss der empirischen Arbeit noch keineswegs erledigt, denn diese Wissenschaft ist erst am Ziel, wenn sie die Menschen und Institutionen jenseits der Universität erreicht. Im Anschluss an die Forschung geht es um Interpretation, Kommunikation, Transfer und Teilnahme an öffentlichen Diskursen.
Dabei ist Selbstdenken im Rahmen der soziologischen Perspektive gefordert – etwa in öffentlichen Gesprächsrunden, Interviews, kurzfristig angeforderten Pressebeiträgen, in Vorträgen mit anschließender Diskussion oder in diversen Formen der Internetkommunikation. Das Debattierseminar soll auf solche Situationen vorbereiten; sein Ziel ist Einübung in öffentliche Soziologie durch learning by doing.
Anders als gewohnt steht dabei nicht Wissensvermittlung im Vordergrund. Vielmehr kommt es darauf an, jenes Wissen, das die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereits mitbringen, spontan in der Dialektik des Gesprächs zu aktivieren, Widerspruch auszuhalten und zu erheben, mit Ungewissheit umzugehen und den Mut aufzubringen, unabhängig vom aktuellen Mainstream Stellung zu nehmen.
Die Themen des Debattierseminars werden gemeinsam formuliert; sie knüpfen an jeweils aktuelle Ereignisse und Streitfragen an. Dazu werden etwa eine Woche vor den Seminarsitzungen Informationen und Stellungnahmen aus verschiedenen Medien im Virtuellen Campus gepostet. Die Seminarsitzungen werden durch ein etwa 5- bis 10-minütiges Statement einer Teilnehmerin oder eines Teilnehmers eingeleitet. Daran schließt sich eine vom Seminarleiter moderierte und strukturierte Diskussion an. Die Debatte dreht sich zum einen um Hauptaspekte des jeweiligen Themas, zum anderen um die Frage, was es bedeutet, dieses Thema soziologisch anzugehen.
Die Seminarleistung besteht in den Debattenbeiträgen und in einer Hausarbeit, die sich an ein vorgestelltes Publikum jenseits der soziologischen Fachöffentlichkeit wendet – in Form eines Zeitungsartikels, eines längeren Leserbriefs, eines Vortrags, eines Radio- oder Fernsehfeatures oder eines im Internet verfügbar gemachten Textes.
Die Debattierseminare finden im soziologischen Studiengang an der Universität Bamberg statt.
Anmeldungen über den virtuellen Campus (VC) der Uni Bamberg.
Themenbeispiele aus bisherigen Debattierseminaren:
- Medienkultur in Deutschland
- Wandel der Parteienlandschaft in Deutschland? Eine soziologische Interpretation der zurückliegenden Wahlen (Bayern, Hessen, Bundestag)
- Wandel der Arbeitswelt durch Digitalisierung
- Menschen und autonome Maschinen
- Bedingungsloses Grundeinkommen
- Identität im digitalen Zeitalter
- Ostdeutschland und Westdeutschland 30 Jahre nach dem Mauerfall
- Bürgerbeteiligung heute
- Neue Formen des Journalismus
- Sekundäre Viktimisierung
- Polizeiaufgabengesetze und Sicherheitsdebatte
- Predictive Policing
- Burnout und die Arbeit am inneren Gleichgewicht
- Der gegenwärtige Wandel der Geschlechterbeziehungen
- Chemnitz und die Folgen
- Hate Speech und Fake News
- Postwachstumsgesellschaft
- Geschlechterbeziehungen heute
- „Generation Beziehungsunfähig“ – Selbstverwirklichung statt Partnerschaft?
- Europa nach der Wahl 2019
- Siedlungsformen von heute – Wandel, Probleme, Lösungsideen
- Drogen, Sucht und Gegenmaßnahmen
- Krankheit und Gesellschaft
- Kommentarkultur im Wandel
- Bedeutungswandel von Menschenrechten
- Social Scoring: Zukunftsmodell oder Wiederkehr der Geschichte? China und die DDR im Vergleich