Projekt: Selbstmedikation und Naturheilmittel im Wandel des Gesundheitssystems

Kurzdarstellung des Forschungsprojekts

Selbstmedikation und Naturheilmittel im Wandel der Gesundheitskultur

Erkenntnisinteressen und Aktualität des Projekts

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Gesundheitssystem in Deutschland tiefgreifend verändert. Die öffentliche Wahrnehmung ist jedoch weitgehend auf Kostenaspekte und Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Akteuren des Gesundheitssystems fixiert, während die für Heilberufe und Patienten zentralen Aspekte des Wandels erst bei einer umfassenden Betrachtung der „Gesundheitskultur“ in ihrer Gesamtheit in den Blick kommen.

Mit dem Begriff der Gesundheitskultur sind einerseits die technologischen, pharmazeutischen, gesetzlichen und institutionellen Bedingungen gemeint, die den aktuellen gesundheitsbezogenen Möglichkeitsraum festlegen (objektiver Aspekt), anderseits die Ausgestaltung dieses Möglichkeitsraums durch handelnde Personen – Patienten, Menschen im Alltag, Ärzte, Apotheker, Funktionäre von Standesorganisationen, Manager und andere (subjektiver Aspekt).

Zu den wichtigsten aktuellen Entwicklungslinien des Wandels der Gesundheitskultur zählt die zunehmende Autonomie der Laien in Bezug auf gesundheitsbezogene Entscheidungen aller Art. Teilweise geht diese neue Selbstverantwortung auf die politisch gewollte Liberalisierung des Gesundheitssystems zurück, vor allem aber auf die Entgrenzung der Informations- und Vergleichsmöglichkeiten und der gesundheitsbezogenen Kommunikation durch das Internet.

Eine zweite zentrale Tendenz der Gesundheitssystems besteht in der Ausweitung der alternativmedizinischen Angebote, seien sie evidenzbasiert oder auch nicht – siehe die ausdrücklich im Arzneimittelgesetz als erstattungsfähig eingeführten „sonstigen Therapierichtungen“, aber auch alle übrigen alternativmedizinischen Angebote im Rahmen der von der Gesundheitspolitik angestrebten „therapeutischen Vielfalt“.

Der Trend zur Alternativmedizin hängt mit dem erstgenannten, der gewachsenen Entscheidungsfreiheit der Menschen im Alltag, insofern zusammen, als die Bevölkerung der klassischen, naturwissenschaftlich-technisch orientierten Medizin und Pharmazie skeptischer als früher gegenübersteht und den diese Richtung repräsentierenden Experten nur noch bedingt vertraut.

Angesichts dieser in ihren Konsequenzen noch weitgehend unreflektierten Veränderungen richtet sich das Forschungsinteresse des Projekts nun auf die Gesundheitspolitik als diejenige Instanz, die einerseits im umfassenden Sinn auf die Rahmenbedingungen der Gesundheitskultur Einfluss nimmt und andererseits auf neue gesundheitsbezogene Handlungsmuster und Mainstreams von Mentalitäten reagiert. Die Gesundheitspolitik vermittelt an zentraler Stelle zwischen der objektiven und der subjektiven Seite der Gesundheitskultur.

Wie beschreiben und beurteilen politische Repräsentanten in Bund und Ländern den gegenwärtigen Wandel der Gesundheitskultur? Welchen Handlungsbedarf sehen sie – oder auch nicht? Welche Konsens- und Konfliktlinien kommender gesundheitspolitischer Diskurse zeigen sich im Gespräch mit Abgeordneten? Welche gesundheitspolitischen Denkwelten werden erkennbar? Mit Luhmann gesprochen, geht es mithin um eine „Beobachtung der Beobachter“.

Das Projekt bezieht mit seinem Fokus auf das Denken gewählter Abgeordneter eine Gegenposition zu den demokratie-skeptischen Positionen vieldiskutierter Zeitkritiker, etwa zu Colin Crouch mit seiner These von der „Postdemokratie“. Dieser These zufolge sollen Wahlen, Parlamentsdebatten und Parteitage nur noch symbolischen Charakter haben.

Im Gegensatz dazu geht die Studie von der Annahme aus, dass Abgeordneten entscheidende Bedeutung in der politischen Willensbildung zukommt. Nach der weitgehenden Auflösung traditioneller Milieus und Interessengruppen bilden sich in tagesaktuellen politischen Auseinandersetzungen immer wieder andere Lager und Konfliktlinien. Mit dieser Wirklichkeit sind Abgeordnete als Diskursteilnehmer konfrontiert. Sie reflektieren auf ihre je persönliche Weise gesellschaftliche Kontroversen und bringen ihr Denken in den politischen Prozess ein. Politische Parteien bieten dafür zwar einen programmatischen Rahmen, sind jedoch auf die aktive Ausgestaltung der politischen Willensbildung durch die Abgeordneten mit ihren vielfältigen gesellschaftlichen Erfahrungen angewiesen.

Das Projekt soll eine Einschätzung und Beurteilung gegenwärtiger politischer Kräfteverhältnisse am Beispiel von Selbstmedikation und Naturheilmitteln erlauben – zwei Themen, die unmittelbar mit den weiter oben erwähnten Tendenzen der Gesundheitskultur (wachsende Selbstverantwortung und weitere Etablierung der Alternativmedizin) zusammenhängen.

Methode, Stichprobe, Auswertung, Interpretationsrahmen und Zeitplan

Die empirische Basis des Projekts bilden offene, leitfadengestützte Expertengespräche mit Abgeordneten (Bund und Länder) aller in deutschen Parlamenten vertretenen Parteien (mit Ausnahme der NPD).

Vier Themenkomplexe stehen dabei im Vordergrund: Selbstmedikation, Naturheilmittel und Naturheilverfahren, Schulmedizin und Alternativmedizin, Gesundheitspolitik.

Die Stichprobe wurde systematisch so konstituiert, dass jede Partei durch mehrere Abgeordnete repräsentiert ist. Anders als in bevölkerungsrepräsentativen Stichproben richtet sich der Repräsentationsanspruch dabei nicht auf eine Grundgesamtheit von Personen, sondern auf ein Spektrum von Inhalten: Die Stichprobe soll die Hauptlinien und Differenzierungen gesundheitspolitischen Denkens mit Bezug auf die oben genannten Themen erfassen, typische Kombinationen abbilden und Parteiunterschiede repräsentieren.

Die Auswertung geht in vier hauptsächlichen und aufeinander aufbauenden Schritten vor sich.

  • Im ersten Schritt wird ein Kategorienschema erstellt, das die Semantik der von den Abgeordneten geäußerten Inhalte in Form von Polaritäten wiedergibt. Diese Polaritäten lassen sich als allgemeine, personenübergreifende Dimensionen des Denkens auffassen und stellen selbst bereits ein Ergebnis der Studie dar, andererseits dienen sie als Werkzeug der nachfolgenden Schritte.
  • Im zweiten Auswertungsschritt wird die Position jedes Einzelfalls im multidimensionalen Raum bestimmt.
  • Der dritte Auswertungsschritt sucht nach überzufälligen Häufungen von Kombinationen als Grundlage einer typologischen Analyse.
  • Im vierten Auswertungsschritt geht es um die Beziehung zwischen der so ermittelten Typologie und der Parteizugehörigkeit.

Der Interpretationsrahmen des Projekts stellt diese empirischen Ergebnisse in einen übergreifenden historischen Zusammenhang. Das in der Auswertung festgestellte Bild der aktuellen Gesundheitspolitik wird als Momentaufnahme in einem langfristigen und unabschließbaren Prozess aufgefasst, der ständig neue politische Interventions- oder auch Rückzugserfordernisse nach sich zieht. Diese Perspektive ermöglicht eine Beurteilung gegenwärtiger gesundheitspolitischer Tendenzen.

Zeitlicher Ablauf: Die empirischen Arbeiten (Durchführung, Transkription und Auswertung der Expertengespräche) begannen im Juni 2014 und wurden im März 2015 abgeschlossen. Der bereits fertiggestellte interne Projektbericht wird 2015 zu einer Buchpublikation aufbereitet.

Literaturhintergrund (Auswahl):

Bechmann, S.: Gesundheitssemantiken der Moderne. Berlin 2007.

Böcken. J. u. a. (Hg): Reformen im Gesundheitswesen.Gütersloh 2001.

Cranz, H. u.a.: Selbstmedikation. Eine Standortbestimmung. Kiel 1982.

Gellner, W. und Schön, M. Hg): Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik? Baden-Baden 2002

Knaut, A.: Abgeordnete als Politikvermittler. Zum Wandel von Repräsentation in modernen Demokratien. Baden-Baden 2011.

Patzelt, W. J.: Abgeordnete und Repräsentation. Amtsverständnis und Wahlkreisarbeit. Passau 1993.

Rosenbrock, R. und Gerlinger, Th.: Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung.Bern 2014.

Schölkopf, M.: Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich. Berlin 2010.

Simon, M.: Das Gesundheitssystem in Deutschland. Bern 2011.