Einleitung

diebesteallerwelten

In seinen Abhandlungen zur Rechtfertigung Gottes aus dem Jahr 1710 behauptete der Universalgelehrte und Philosoph Leibniz, wir lebten in der besten aller möglichen Welten. Dies könne gar nicht anders sein – trotz des metaphysischen Übels der Vergänglichkeit, des physischen Übels von Leid und Schmerz und des moralischen Übels von Ausbeutung und Unterdrückung. Sein Buch ist eigentlich ein Glaubensbekenntnis: Weil Gott alles weiß, muss er die beste aller möglichen Welten kennen; weil Gott alles kann, liegt es in seiner Macht, sie einzurichten; und weil Gott gütig ist, tut er dies auch. Diese Abhandlung wurde zu einer der wichtigsten philosophischen Schriften des achtzehnten Jahrhunderts – am Anfang als Monumet, am Ende als Reibungsfläche. Sie war Katalysator einer umfassenden Neubesinnung, die noch immer aktuell ist.

Bis heute sind wir geistige Erben der Wende, die das Denken mit der Aufklärung genommen hat. Nichts prägt die Kultur des Westens so sehr wie die Vorstellung, die beste aller Welten sei noch nicht verwirklicht. Leibniz glaubte, dass man die beste aller Welten immer schon vorfände. Wir denken, dass man sie immer nur suchen könne, ohne jemals dort anzukommen.
Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte sich die Endzeit-Literatur zu einem eigenen Genre: Ende der Kunst, Ende der Geschichte, Ende der Wissenschaft, Ende des Menschen… Die meist empörte Zurückweisung solcher Endzeitdiagnosen zeigt, wie tief die Selbstdeutung als ewig Suchende in uns verwurzelt ist und wie sehr wir die Suche als Teil unseres Wesens begreifen. Die Ankündigung ihres Endes wirkt nicht erlösend, sondern bedrohlich.

Wir suchen. Mehr denn je ist unsere Geschichte das Ergebnis von Selbstbeobachtung, Diskurs, Meinung und Entscheidung, wie widersprüchlich und fehlerhaft das, was in unserer Köpfen vorgeht, auch immer sein mag. Und wir handeln, obwohl das Irrtumsrisiko im selben Maß wächst wie unsere Möglichkeiten. Wir haben keine Anstrengung gescheut, uns selbst zum Schicksal zu werden.

In seinem Buch Bummel durch Europa aus dem Jahr 1899 beschreibt Mark Twain einen Waldspaziergang an einem Sommertag in der Nähe von Heidelberg. Er suchte sich ein sonniges Fleckchen, setzte sich und betrachtete den Waldboden. Über das, was er dort sah, verfiel er in langes Grübeln. Zwei Ameisen beschäftigten sich mit einer Tannennadel. Jede hielt ein Ende in ihren Zangen und zog nach Leibeskräften daran. Es war ein Geschiebe und Gezerre, behindert durch Wurzeln und abgebrochene Zweige. Schließlich schienen sie sich auf eine Richtung geeinigt zu haben. Sie schleppten die Tannennadel ein Stück weit, machten dann aber unvermittelt kehrt und schleppten sie in die entgegengesetzte Richtung. Endlich kamen sie gut voran und hatten sich offenbar aufeinander eingespielt. Aber da ließen sie plötzlich ihr Objekt fallen und gingen eilig ihrer Wege.
Ist dies eine Metapher für das, was bei unserer Suche herauskommt? Gewiss, den Vergleich mit den Ameisen, die Mark Twain beobachtet hat, müssen wir aushalten. Zu den drei Übeln, mit denen sich Leibniz beschäftigt hat, gesellt sich als viertes das Absurde. Die andere Hälfte der Geschichte ist freilich, dass die Ameisen doch immer wieder einen Bau zustande bekommen.

Die beste aller Welten: dieser Titel bezeichnet weder ein schon erreichtes noch wenigstens ein irgendwann in der fernen Zukunft erreichbares Ziel. Er charakterisiert lediglich den zentralen Suchbegriff der Kultur des Westens, ein Minimum an Konsens, dem freilich ständiger Zwist über die einzuschlagende Richtung entspringt. Empirisch ausgerichteten Wissenschaftlern mag es atemberaubend verwegen vorkommen, die beste aller Welten zum Kristallisationskern von Überlegungen zu machen, die das kommende Jahrhundert in den Blick nehmen. Das Irrtumsrisiko eines Gedankengangs ist jedoch kein zureichender Grund dafür, ihn zu unterlassen. Klar ist freilich, dass es darauf ankommt, einen möglichst vielversprechenden Fokus zu wählen. Diesen sehe ich in der Annahme, dass auch die Suchbewegungen der Zukunft durch die kollektive Erfahrung der Moderne geprägt sein werden. Meine Leitfrage ist: Wie könnte eine Fortsetzung der Moderne aussehen?

Im wesentlichen lässt sich meine Perspektive als Verbindung von verstehender Soziologie, Existenzphilosophie und Pragmatismus kennzeichnen – drei Strömungen, von denen jede bereits auf eine mehr als hundertjährige Tradition zurückschauen kann, aber immer noch aktuell ist.