Einleitung

Wovon man nicht sprechen kann

Es gibt zwei Arten von Kulissen: die lügnerischen und die spielerischen. Im einen Fall wird die Wirklichkeit drapiert, um Beobachter zu täuschen, wie es Potemkin tat, um der Zarin Katharina blühende Dörfer dort vorzuspiegeln, wo eigentlich Armut herrschte. Ein Blender wendet alles Geschick auf, um die Kulissen als echt erscheinen zu lassen. Im anderen Fall soll Wirklichkeit nicht verschleiert, sondern hergestellt werden. Spielerische Kulissen wie Erlebnisparks, Computerspiele oder Filme werden als illusionserzeugende Konstruktionen angeboten und nachgefragt. Dabei gelten Gefühle, Phantasien, Erlebnisse nicht als Wahrnehmungsstörungen, sondern als Wirklichkeit eigener Art.

Vielleicht sind auch die potemkinschen Dörfer eher so zu interpretieren. Man vermutet nämlich, dass Katharina die Große den wohlmeinenden Bluff von Potemkin durchschaute und ihm insgeheim dafür dankbar war. Offenbar hat die ganze Reisegesellschaft, mit der sie 1787 den Dnjepr hinunterfuhr, um ihr Reich zu besichtigen, die an den Ufern aufgestellten Attrappen gepflegter und fortschrittlicher Dörfer angedeutet: von lügnerischen Kulissen in spielerische.

Dass es die Trennung von Lüge und Spiel nicht gebe, dass spielerische Kulissen nur besonders raffinierte Lügenkonstruktionen seien, ist der traditionelle Argwohn einer „entlarvenden“, über die wahren Verhältnisse aufklärenden Kulturkritik. Aber der Unterschied zur NS-Propaganda und Sportartikelreklame ist zu groß, als dass man beides mit demselben Kritikmuster abhandeln könnte. Begriffe wie „falsches Bewusstsein“ oder „Verlogenheit“ verfehlen zunehmend die Bedeutung heutiger Inszenierungen. Niemand muss die Zeitgenossen darüber belehren, dass Werbung, Musikvideos oder große Sportereignisse etwas vorspiegeln, das es „eigentlich“ nicht gibt. Es geht um eine gute Show; die Wirklichkeit jenseits der Inszenierungen steht auf einem anderen Blatt. Der Unterschied zwischen Facts und Fiction ist den Menschen im Alltagsleben geläufiger als vielen Propheten des aufgeklärten Bewusstseins.

Der enormen Vermehrung spielerischer Kulissen in den Zonen des westlichen Lebensstils entspricht eine ungekannte Intensivierung des Diskurses über das schöne Leben. Orte dieses Diskurses sind Kosmetikstudio und Fitnesscenter, Talkshow und Kneipe, Psychogruppe und Feuilleton, Bekanntschaftsanzeigen und Gespräche im Supermarkt. Das Glück wurde zum zentralen Thema einer Suche ohne Ende.

Unbeeindruckt von allen Katastrophenbefürchtungen arbeitet sich eine profane Heilserwartung vorwärts. Wir versprechen uns buchstäblich alles, was wir uns wünschen könnten – und bekommen es: Hochgeschwindigkeitszüge, intelligente Kühlschränke, Potenz und ganzjährige Sonnenbräune. Je mehr Möglichkeiten man aber hat, desto mehr tritt die Frage nach dem richtigen Gebracht der Möglichkeiten in den Vordergrund.

Was heißt in diesem Zusammenhang „richtig“? Im nachmetapyhsischen Zeitalter besteht das Höchste , für das man im Diskurs noch Respekt einklagen kann, in nichts weiter als dem menschlichen Leben als eine Art Gott – ihm gilt es zu dienen, von ihm bezieht man seine grundlegenden Maßstäbe. Sein oberstes Gebot lautet: „Fang etwas mit mir an!“ An die Stelle des alten Begriffs der Sünde hat der Gott „Leben“ einen existentiellen Vermeidungsimperativ gesetzt: „Verpfusch mich nicht!“

So klar diese Anweisung ist, so unklar bleibt freilich, wie man sie befolgen soll. Alle Welt macht sich darüber Gedanken, jeder berät jeden, man glaubt, zweifelt, verwirft und glaubt erneut. Der Glücksdiskurs zieht unsere Sozialwelt in ihren Bann wie ein Gottesdienst.

Dabei wächst zwar wegen der Vielzahl der Botschaften ständig die Verwirrung, doch lässt sich immerhin eine klare Fokussierung des Glücksdiskurses auf zwei Hauptfragen erkennen. Erstens: Wie vermeide ich Unglück? Zweitens: Wie werde ich glücklich? Der Akzent der kollektiven Glückssuche liegt in der Gegenwart eindeutig auf der zweiten Frage.

Im Gegensatz dazu empfiehlt Aristoteles aus gutem Grund, es bei der ersten Frage bewenden zu lassen 2. Diese zielt nämlich auf konkrete, erforschbare, verhandelbare und in Grenzen planbare Dinge. Die Formen des Unglücks sind klar und für alle nachvollziehbar als Krankheit, Armut und Ohnmacht definiert. Um gegenzusteuern, kann man mit einigen Erfolgsaussichten an den objektiven Umständen ansetzen, wenn es auch keine Sicherheit gibt.

Die zweite Frage hängt zwar mit der ersten zusammen. Es ist schwer, glücklich zu werden, wenn es einem nicht gelingt, das Unglück abzuwehren. Doch das Vermeiden von Krankheit, Armut und Ohnmacht ist noch keine hinreichende Bedingung des Glücks. Wenn man endlich so weit gekommen ist, dass sich die zweite Frage überhaupt stellt, betritt man einen Bereich, in dem es ungleich schwieriger ist, erfolgreiche Routinen aufzubauen, sich klare Anschauungen zu bilden, mit anderen über Definitionen und Strategien zu reden, gute Ratschläge zu erfragen und zu erteilen. Beispielsweise lassen sich leichter Grundsätze darüber formulieren, wie ein Vermögen aufzubauen wäre als darüber, wie man sich damit ein schönes Leben machen könnte – der ökonomische Gewinn ist leichter zu planen als der psychische. Ebenso ist relativ eindeutig, was man tun muss, um einer Reihe von Krankheiten vorzubeugen; was man aber für sein Glück tun könnte, wenn man gesund ist, lässt sich nur mit großer Ungewissheit vermuten.

Geht es bei der ersten Frage um äußere Gegebenheiten, so fokussiert die zweite das Innenleben. Die Kulissen des Glücks sind als Szenarien möglichen und wählbaren Innenlebens gedacht.

Fußball, Popkonzerte, Werbespots, Fernsehen, Trendsportarten, Eigenheimarchitektur, Automodelle und Cypersex: Soziologisch gesehen handelt es sich bei spielerischen Kulissen (im Gegensatz zu lügnerischen) um etwas Ähnliches wie Sprache. Fußball etwa ist für die verstehende Soziologie eine Landschaft von Zeichen. Bei einer Reise durch diesen Symbolkosmos – Stadion, Fankurve, Sprechgesänge, Rituale auf dem Spielfeld, Interviewmuster, Bildregie im Fernsehen, Formen der Berichterstattung, Kommentare – teilt sich allmählich die öffentliche, einem Millionenpublikum vertraute Kulturbedeutung von Fußball mit, ohne jemals explizit zu werden.

Kulissen sind gemeinsam erschaffene und ständig weiterentwickelte Projektionsflächen für Gefühle, Wünsche, Phantasien, das Menschsein überhaupt. Eine Kernidee des Theaters ist auf das gesamte Alltagsleben übergesprungen; Kulissen sind allgegenwärtig geworden. Doch obwohl sie jede nur erdenkliche Form annehmen, bringen sie niemand in Verwirrung. Die Interpretation eines Teils der uns umgebenden Wirklichkeit als Inszenierung ist eine schon den Kindern verfügbare Kulturtechnik. Die Inszenierungen der Gegenwart sind nicht lügnerisch, sondern spielerisch; sie täuschen nicht, sondern wollen gestalten; sie sind eine unserer Kultur eigentümliche Form von Wirklichkeit. Das Wesen dieser Form besteht darin, dass Menschen sich selbst wirklich machen, indem sie sich in Szene setzen. Wie kommt es dazu? Ein der Besonderheiten der gegenwärtigen kulturhistorischen Passage ist die Undeutlichkeit des Selbst für sich selbst. Wer sich durchs Leben kämpfen muss, wer also mit der Abwehr des Unglücks beschäftigt ist, hat keine Schwierigkeiten, seine eigenen Konturen zu erkennen und gewinnt Profil in der Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten. Hat man jedoch dieses Stadium hinter sich gelassen, bleibt die Frage, wer man selbst denn eigentlich sei, zunächst offen. Weil dies bei sehr vielen Menschen der Fall war und ist, setzte in immer größerer Breite die Fabrikation von Subjektivitätsschemata ein. Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit vollzieht sich nun zu einem wesentlichen Teil im Herstellen, Verwenden, Umbauen und Entsorgen von Modulen des Menschseins.

Wohl gibt es auch noch andere Möglichkeiten der Selbstfindung – Begegnungen, Gespräche, schöpferisches Tun, Kontemplation, Hingabe an eine selbstgewählte Aufgabe. Viel wichtiger ist in der Gegenwart aber die Vermarktung von Konstruktionselementen des schönen Lebens. Unsere Kultur bringt lawinengleich immer wieder neue Varianten dieser Form von Selbstfindungsangeboten hervor; sie institutionalisiert Mechanismen des Hervorbringens (Kulturmanagement, Marktforschung, Design, Erotikmessen, Quotenfeedback u. a.) sie ironisiert und reflektiert aber auch ständig ihre Versessenheit auf Kulissen. Grundmotive der Kulturkritik sind populär geworden und finden sich nun als selbstbezüglicher Bestandteil der kritisierten Kultur wieder, etwa die Befürchtung eines Ungleichgewichts zwischen subjektiver und objektiver Sphäre: Vergessen wir die Außenwelt über der Beschäftigung mit unserem Innenleben?

Damit befindet sich unsere Kultur in einer Bewegung, die als offener Lernprozess zu verstehen ist. Die altgewohnten Attacken auf die Kulturindustrie werden den Chancen und Risiken dieses Vorgangs schon deshalb nicht gerecht, weil die Gegenüberstellung von böser Kulturindustrie und guten, wenn auch verblendeten Menschen nicht stimmt. Zu sehr sind wir alle durch Wählen und Vermeiden an der Entstehung und Umformung kultureller Muster beteiligt, als dass wir uns durch das Feindbild einiger geldgieriger Drahtzieher aus der Verantwortung stehlen könnten.

Weil die Kulissenwelt den Raum des Menschmöglichen inzwischen so dicht besetzt hat, dass jeder nur mögliche Gegensatz darin enthalten ist, gehört der Widerwillen, die schroffe Ablehnung, die Flucht zu den Überlebenstechniken in unserem Alltagsleben. Dem schnellen Weiterzappen des Motorsportgegners, der versehentlich in der Übertragung eines Autorennens gelandet ist, entspricht das Hohngelächter des Technofans, der sich beim Einschalten seines Autoradios für kurze Zeit in eine Sendung mit deutschen Kunstliedern der Romantik verirrt hat. In der Kulissenwelt herrscht ästhetische Demokratie, wenn sich auch viele gegenseitig unerträglich finden. Die Unterscheidung von gutem und schlechten Geschmack ist Privatsache geworden; alle Versuche wieder eine allgemein anerkannte Hierarchie der Stile einzuführen, sind zum Scheitern verurteilt.

Wie kann man in dieser Situation überhaupt noch über kulturelle Muster reden? Übrig geblieben sind zwei Hauptformen: zum einen die ästhetische Selbstvergewisserung, in der Erlebnisse zur Sprache gebracht werden, also die Artikulation des jeweils eigenen Geschmacks; zum anderen die kultursoziologische Beschreibung der ästhetischen Praxis, das Herausarbeiten von Grundmustern, die sich in zahllosen Episoden wiederholen. Die erste Diskursform gehört unmittelbar zur ästhetischen Praxis dazu, die zweite nicht. Dass beides häufig miteinander vermengt wird, dass also Kulturbeschreibung oft mit dem Gestus allgemeinverbindlicher Geschmacksbewertung und nörgelnder Stilkritik daherkommt, wirkt wie eine Marotte unbelehrbarer Lehrer, auf die kaum noch jemand hört.

Kulturbeschreibung vollzieht sich inzwischen vor allen in kommerziellen Zusammenhängen. Die zeitdiagnostische Deutungskompetenz der Macher und ihrer Berater entscheidet über den wirtschaftlichen Erfolg von Konsumgütern, Veranstaltungen und Medienprodukten. Zumindest intuitiv müssen die Kulissenbauer dazu fähig sein, aktuelle Tendenzen des Menschseins zu erfühlen; sind sie es nicht, droht ihnen der Konkurs.

Jenseits dieser ökonomisch orientierten Gegenwartsdeutung liegt das Feld der Kultursoziologie. Ihr Ziel ist, implizite Elemente gegenwärtiger kultureller Formen explizit zu machen, damit sie der Reflexion und einer bewussten Entscheidung dafür oder dagegen zugänglich werden. Diese Entscheidung selbst ist aber schon nicht mehr Sache der Kultursoziologie. Es gibt dafür keine verbindlichen Grundlagen, und der persönliche Geschmack des Kultursoziologen ist nicht erwähnenswert.

Es scheint allerdings, dass nichts schwieriger ist als Zurückhaltung in ästhetischen Fragen. Jedem seinen eigenen Geschmack zuzubilligen, gehört inzwischen zwar zum guten Ton, doch die pflichtschuldige Relativierung eigener Geschmacksurteile ist immer nur ein Lippenbekenntnis, das unser ungeniertes, soziologisch nicht zu erreichendes Innenleben übertönen soll. Unsere Emotionen kümmern sich nicht um scharfsinnige Analysen; sie wollen nicht verstehen, sondern verstanden werden, und die Appelle an unsere ästhetische Toleranz erreicht nicht die Tiefenbereiche des Stammhirns: jene Regionen, wo Begeisterung und Ekel herkommen. Im Verhältnis zum Kulturimperialismus des eigenen Standpunkts ist alle Relativierung nur eine rhetorische Floskel, alle ästhetische Toleranz nur ein Handtuch, das man schnell über die Physiognomie des Widerwillens wirft. Dort, wo es in uns nicht mehr denkt, sondern fühlt, stehen wir voll Verachtung vor den Geschmacksverwirrungen der anderen und sind voll Anbetung für unsere eigenen Fetische.

Selbst bei besonders reflektierten Zeitgenossen erweisen sich die von ihnen selbst geforderten Umgangsformen eines gereiften Relativismus schnell als brüchig. Uns allen ist es beispielsweise zuwider, wenn uns jemand mit schlechten Scherzen zum Lachen zu bringen versucht. Doch niemand kann verbindlich klarstellen, was eigentlich unter einem schlechten Scherz zu verstehen ist. Im Lachen und in seiner Verweigerung zeigt sich der ästhetische Despot in uns besonders unverfälscht. Dass sich etwa Norbert Bolz immer wieder als Konstruktivist zu erkennen gegeben hat, bewahrte ihn nicht davor, sich in einem exzellenten Artikel über Comedy objektivierender Begriffe wie „guter“ und „schlechter Geschmack“ zu bedienen . Für uns Intellektuelle ist es immer nur ein kleiner Schritt vom Geltenlassen des Ärgernisses anderer Stile zur alten hochkulturellen Übereinkunft der geistigen Elite: dass das, was die Wissenden gut finden, auch gut ist, und was sie schlecht finden, anderen nur gut scheint.

Im dagegen ankämpfenden Versuch, die ästhetische Praxis fremder Milieus ernst zu nehmen und zu respektieren, ähneln sich Kommerz und Soziologie, doch die Soziologie geht einen Schritt weiter. Ihr besonderer Beitrag besteht in der distanzierten Betrachtungsweise. Das Hauptanliegen der Soziologie ist dialektischer Art: die Frage nach dem unerkannten, versteckten, vergessenen Anderen zu stellen.

Es gibt viele Möglichkeiten, über die Kulissen des Glücks dialektisch nachzudenken. Die unwichtigste davon wäre, nach weiteren, noch nie gesehenen Varianten zu suchen, denn dieses Geschäft betreiben schon genug andere mit aller Intensität. Dagegen gibt es einen großen kaum erkannten Bedarf, den Gegenpol zu den Kulissen des Glücks zu beleuchten, dem sie erst ihre Existenz verdanken: das glückssuchende und erlebende Subjekt. Von diesem ist zwar unentwegt die Rede, sodass man meinen könnte, hierzu gäbe es kaum noch Neues zu sagen. Doch mit dieser Einschätzung kommt genau der Irrtum zur Sprache, der den Bedarf verursacht, neu über den Einzelnen im Verhältnis zu den Kulissen des Glücks nachzudenken.

Zwar ist es richtig, dass noch nie so viel Aufwand getrieben wurde, um den unendlichen Differenzierungen des Innenlebens entgegenzukommen. Technik und Markt sind extrem subjektreagibel geworden, sodass sich jeder seine eigene Szenerie zusammenmontieren kann. Was den Einzelnen ausmacht und worin sein Glück besteht, schlägt sich dieser Denkweise zufolge in der Komposition des Gewählten nieder. Das Glück eines Menschen wird mit dem Ensemble seiner nach persönlichen Geschmack zusammengestellten Kulissen gleichgesetzt: sein Auto inklusive Extras, der durchschnittliche Inhalt eines Kühlschranks, sein Kleiderbestand, sein Pfad durch Restaurants, Kneipen, Diskotheken, Veranstaltungen, seine Reisen und Aufenthalte an fremden Orten, sein Musik-Menue, seine Auswahl aus dem Angebot der Medien- – Bilder, Texte, Gesichter, Körper und Geschichten. Die Individualisierung der Komposition von Kulissen und die weit gehende Freiheit des Wählens, Vermeidens, Entsorgens und Auswechselns legen den Schluss nahe: Ich bin, womit ich mich umgebe.

Aber das Ich ist wesensmäßig was anderes. Es manifestiert sich zwar im Gewählten; es begeistert sich für Botschaften, die etwa im Design einer Einbauküche zum Ausdruck kommen; es lässt sich zu Phantasien anregen; es nutzt die Szenarien des Erlebens. Es gibt aber einen Bereich des Ich, der jenseits aller Kulissen des Glücks liegt: der Bereich absoluter und unaufhebbarer Einzigartigkeit.

Ein zentrales Paradox der gegenwärtigen Kultur liegt darin, dass einerseits die Kultivierung des Singulären zum Programm von jedermann geworden ist („Ich bin auf der Welt, um ganz ich selbst zu sein“), andererseits aber genau dies zum Gegenstand von Diskurs und öffentliche Inszenierung wurde.

Für das Selbstsein wird alles nur Erdenkliche getan. Man redet ununterbrochen darüber. Man psychologisiert, lässt sich von Therapeuten auf die Sprünge helfen und liest Ratgeber. Tendscouts und Marktforschungsinstitute spüren den aktuellen Bewegungen der Subjektivität nach. Popstars, Models, Politiker, Sportler und andere prominente Figuren versorgen die Öffentlichkeit mit immer wieder neuen Schemata des Menschseins. Die Versicherung der Einzigartigkeit wurde zur Standardfloskel, ob es nun um Motorräder, Zigaretten, Reisen, Kino oder um die Alterversorgung geht. Gerade dadurch aber, dass Individualität so intensiv diskutiert, beschworen, erforscht, angeboten und zugesichert wird, droht sie in Vergessenheit zu geraten. Die Kulissen des Glücks sind öffentlich, das gesuchte Glück dagegen privat.

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“4 – wir tun aber trotzdem so, als ob man darüber reden könnte. Die Folge ist, dass sich das, worüber man tatsächlich sprechen kann, in den Vordergrund schiebt, und das zu verblassen droht, worüber man schweigen muss. Im Diskurs über das persönlich empfunden Glück kann es immer nur über diskursfähige Dinge gehen, etwa um empirisch feststellbare Korrelate des Glücks, um beschreibbare Wege der Annäherung, um grobe Klassifikationen von Gefühlen, um anthropologische Universalien, um endokrine Ausschüttungen, um öffentlich sichtbare Inszenierungen. Der Diskurs muss jedoch immer vor dem inneren Bezirk des Erlebens Halt machen.

Viele lassen sich vom Diskurs über das schöne Leben zwar den Weg zu ihrem inneren Bezirk zeigen und gruppieren die Kulissen des Glücks vor dem Eingang. Sie versäumen es dann aber, in vollem Bewusstsein hineinzugehen. Die Aufmerksamkeit bleibt oft nur auf das Öffentliche fixiert, während das Private als Nebensache, wenn nicht gar als Störung behandelt wird. Kennzeichnend für unsere Kultur ist ein häufiger Widerspruch zwischen Wollen und Handeln. Man will seine Einzigartigkeit ausleben, doch gerade die auffälligsten Wegweiser zu diesem Ziel führen daran vorbei.

Gewiss lässt sich damit leben; die Entscheidung aber, ob man tatsächlich auch so leben will, setzt zunächst voraus, dass man den kulturtypischen Widerspruch zwischen Wollen und Handeln kennt und das Andere versucht: die unaufhebbare Einsamkeit des Ich zu kultivieren und mit der Öffentlichkeit von Glücksdiskurs und Kulissenwelt zu verbinden. Nicht diese beiden Pole – Singularität und Gemeinsamkeit – machen den Widerspruch aus, sondern das Ignorieren der Polarität im Zusammenhang eines Lebensentwurfs, der sie implizit voraussetzt.

In einer ganz anderen Zeit lebend beschäftigte sich Montaigne mit dem gleichen Gegensatz. „Wenn ich schreibe, verzichte ich weitgehend auf die Gesellschaft der Bücher, damit sie die Darstellung meiner Gedanken nicht unterbrechen … Für mein Vorhaben kommt es mir auch zustatten, dass ich in einer ländlichen Gegend schreibe, unter Hinterwäldlern, von denen keiner mir helfen oder mich berichtigen kann. In anderer Umgebung hätte ich mein Werk besser geschrieben, aber es wäre minder mein gewesen; ebendarin besteht jedoch sein Hauptzweck, seine Vollkommenheit: ganz mein Eigen zu sein“5

Nur scheinbar geht es hier um etwas anderes als etwa bei einer Pauschalreise nach Las Vegas. Das Schreiben steht in der gleichen Spannung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit wie das Projekt des schönen Lebens. Wenn ich wirklich zum Autor meines Lebens werden will, tue ich gut daran, es gelegentlich Montaigne gleichzutun und jenen inneren Bezirk aufzusuchen, „in dem keiner mir helfen oder mich berichtigen kann.“ Montaigne begreift Einsamkeit als Teil der Lebenskunst. Freilich zieht er sich nicht in sich selbst zurück. Er kennt die Welt und die Bücher, aber er bleibt nicht dabei stehen. Montaigne ist ein beispielhafter Wanderer zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Seine Konzentration auf sich selbst bedeutet nicht, dass er alles andere ausblenden würde. Die liefe ebenfalls auf ein Ignorieren der Polarität hinaus, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Wie beim Schreiben kommt es auch beim Umgang mit den Kulissen des Glücks darauf an, zwischen innen und außen zu wandern.

In den folgenden Texten taucht die Spannung zwischen innen und außen und das labile Gleichgewicht zwischen den beiden Polen in verschiedenen Facetten auf. Das Buch ist nicht als systematische Untersuchung angelegt, sondern als eine Folge von Streifzügen: Annäherungen an verschiedene Ausprägungen eines zentralen Aspekts der gegenwärtigen Kultur. Die Unterschiedlichkeit der Themen bedingt zwar einerseits jeweils andere Beobachtungen und Überlegungen, andererseits werden aber gerade dadurch Grundmuster der sozialen Wirklichkeit erkennbar. Wie Leitmotive wiederholen sich bestimmte Beschreibungsformeln von Kontext zur Kontext: Folklorisierung, Kreislauf von Subjektiven, Marktgeschehen als Diskurs, Rationalisierung des Erlebens, Subjektzentrierung, Singularität des Ich, kollektives Lernen. Dass die Texte aneinander anklingen, ist nicht als Redundanz, sondern als soziologischer Hinweis zu werten.

Der auf diese Einleitung folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Widerspruch von Intimität und Inszenierung. Im daran anschließenden Aufsatz wird die Entwicklung des Lachens in den neunziger Jahren als Anzeichen einer Annäherung an das Private im Zeichen der Ironie interpretiert. Eine weitere Abhandlung reflektiert die gemeinsame Konstruktion von Kulissen des Glücks in einem marktförmig organisierten Diskurs zwischen Medienanbietern und –nachfragern. Der dann folgende Beitrag geht über die Welt der Medien hinaus; er widmet sich allgemein der Eventfolklore. Der letzte Beitrag des Buches knüpft an die Einleitung an. Sein Thema ist das, wovon man nicht sprechen kann – die subjektive Einzigartigkeit. Der Epilog umkreist dieses Thema durch einige Bemerkungen über das Bett.