Einleitung

Worum es geht

Im Anblick der Gefahr

Die Rettungsboote auf der Titanic reichten nicht aus. Trotzdem wäre in einigen von ihnen noch Platz gewesen, und zwar in den ersten, die zu Wasser gelassen wurden. Zu diesem Zeitpunkt ignorierten die meisten Passagiere den Alarm. Die Titanic galt als unsinkbar, und mit ihrer Atlantiküberquerung sollte sie einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufstellen. Niemand hatte das Risiko der Eisberge ernst genommen, und selbst als die Kollision erfolgt und der Risikofall eingetreten war, änderte sich erst einmal nichts an der allgemeinen Unbesorgtheit. Wenig später neigte sich die Titanic nach vorne, das Deck wurde zur schiefen Ebene. Nun war es zu spät. Die Menschen auf dem Schiff strömten nach oben zum Heck, während der Bug bereits versank. Schließlich stand das Schiff senkrecht im Wasser und schoss in die Tiefe.

Der Untergang der Titanic ist eine gern zitierte Metapher für die Zukunft des Raumschiffs Erde. Längst gilt auf diesem Schiff Alarmstufe rot, das Gefühl des drohenden Untergangs beherrscht die Krisendiskurse des 21. Jahrhunderts. Wer heute den Alarm in Frage stellt, muss mit der Empörung der Alarmierten rechnen: Es gehe schließlich um Leben und Tod. Das ist möglich; trotzdem ist immer über das Zustandekommen des Alarms zu reden, soviel Zeit muss sein. Das ist mein Ausgangspunkt.

Vehement ist Kant der Behauptung, etwas sei zu kompliziert für Laien und müsse dem Urteil der Experten überlassen werden, mit seiner Aufforderung zum Selbstdenken entgegengetreten. Schon ein paar Stunden und ein Internetzugang genügen fürs Erste, um sich angesichts einer behaupteten Gefahr eine eigene Meinung zu bilden, worum auch immer es sich handelt.

Zur Beunruhigung findet jeder, der am Weltgeschehen teilnimmt, fast täglich Anlass. Die absolute Zahl der Hungernden und extrem Armen nimmt zu. Der Regenwald wird abgeholzt. Viele Länder vernachlässigen den Umweltschutz. Zweieinhalb Milliarden Menschen haben zu Hause kein fließendes Wasser. AIDS und Malaria sind weiter auf dem Vormarsch. Die Finanzkrise ist nicht überwunden, von der Krise der Europäischen Union ganz zu schweigen. Die Weltbevölkerung wächst nach wie vor, während die Bevölkerung in den alten Industrienationen schrumpft. Terroranschläge sind überall zu befürchten. Globale Pandemien drohen.

Hinzu kommen Naturkatastrophen und Mega-Unfälle. Welche Lektion hielt die im April 2010 von Island über Europa treibende Wolke voller Vulkanaschepartikel für die gestrandeten Passagiere in den Flughäfen Europas bereit? In einem riesigen System wie dem internationalen Flugverkehr, so wieder einmal die Botschaft, ist nichts so gewiss wie der Störfall. Große Technik, große Zusammenbrüche. Der Flugverkehr hatte sich noch nicht normalisiert, da sank schon die Bohrinsel von BP im Golf von Mexiko. Unfassbare drei Monate lang strömte eine Unmenge von Öl ins Meer. Am Ende aller raffinierten Großtechnik scheiterten die Ingenieure ein ums andere Mal an einer Herausforderung, die in ihrer Schlichtheit wie ein Hohn erscheint: ein Loch zu stopfen.

Dieses Fiasko steht für viele andere. Nicht nur bei der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko stellte sich bald heraus, dass sie durchaus vermeidbar gewesen wäre. „Es wird schon gut gehen“: Das zuständige Amt zur Verwaltung der Bodenschätze der USA hatte den Bock zum Gärtner gemacht; es gab BP und dem Pächter der Bohrinsel in blindem Vertrauen freie Hand. „Es wird schon gut gehen“: Auch der Zusammenbruch von Lehmann-Brothers 2008 und das Griechenlanddebakel 2010 waren mitnichten Naturereignisse wie der Vulkanausbruch auf Island. Im Nachhinein erwiesen sich beide Crashs als vorhersehbar und vermeidbar.

Und doch gaben sich die Experten, die Ratingagenturen, die Aufsichtsbehörden und die Regierungen vor der kopfschüttelnden Weltöffentlichkeit überrascht. Niemand könne eben in die Zukunft sehen, hieß es zunächst. Nach und nach zeigte sich allerdings, dass nicht Unvorhersehbarkeit das Problem war, sondern eine Batterie von Rauchkerzen: Schönfärberei, Dummheit, Gewohnheit, Verschleierung, Desinformation und handfester Betrug. Und welche Rolle spielten die Medien im Vorfeld? Von Ausnahmen abgesehen, spiegelten sie all dies wieder, statt es aufzudecken.

Lob der Skepsis

Alles in allem bringt dieses Panorama eine akute Wissensnot zum Vorschein. Das Nichtwissen äußert sich als Sicherheitsillusion in der ignoranten Ruhe vor dem Sturm und als Ratlosigkeit nach dem Ausbruch der Krise. Es äußert sich aber auch als Ungewissheit über die tatsächliche Gefahrenlage und als Unsicherheit von Rechenmodellen, Computersimulationen und Vorhersagen. Die Ungewissheit überträgt sich auf die daraus abgeleiteten Präventivmaßnahmen und gerät gleichzeitig in Vergessenheit. Werden Mittel vergeudet, die an anderer Stelle dringend gebraucht würden? Wird die Illusion einer Interventionsmöglichkeit erzeugt, die sich bei näherem Hinsehen als absurd erweist? Werden Chancen nicht genutzt? Und die Wissensnot wächst schneller, als sie sich durch Wissenschaft verringern lässt; Technik, soziale Differenzierung und Globalisierung führen zu immer größerer Komplexität.

Dieser Situation kann man am erfolgreichsten mit freiem Denken entgegentreten. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn freies Denken bringt Ärger. Ein freier Geist soll konstruktiv sein, dafür muss er aber alles beiseite räumen, was ihn behindert. Er muss Nein sagen dürfen, um Ja sagen zu können. Das freie Denken impliziert Skepsis. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass das Neinsagen dem zuwiderläuft, was einem das Gefühl eingibt. Man muss doch handeln, bevor es zu spät ist; man braucht doch Antworten, keine Zweifel, sagt das Gefühl. Skepsis ist kontraintuitiv. Umso höher ist das Geschenk einzuschätzen, das die griechische Philosophie der Moderne mit dem skeptischen Denken hinterlassen hat.

Dass man dieses Erbe allerdings immer wieder neu erwerben muss, um es zu besitzen, gilt für die Skepsis in ganz besonderem Maße. Der Idee nach ist Skepsis eine Lebenshaltung der vorsichtigen, kühlen Distanz. Egal um welche Sachfragen es geht – man nimmt für sich in Anspruch nachzufragen, zu prüfen und nichts unbesehen zu glauben. Aber diese Lebenshaltung ist stets gefährdet. Nur zu gerne lässt man seine Zweifel auf sich beruhen. Skepsis macht Mühe, erregt Argwohn und schafft einem Feinde.

Außerdem kommt man so gut wie nie an das Ende aller Einwände, Unsicherheiten und Fehlermöglichkeiten. Auch Skeptiker müssen irgendwann handeln, ohne Gewissheit für sich in Anspruch nehmen zu können. Auf mehr als auf eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, das Richtige zu tun, können sie nicht hoffen. Das aber ist nicht Nichts – es ist das Beste, was wir bekommen können. Genau diesem unbefriedigend scheinenden Zugewinn verdanken wir allen wissenschaftlichen, technischen, ökonomischen und intellektuellen Fortschritt. Dieser Fortschritt ist nicht ohne Risiko zu haben, der Verzicht auf ihn allerdings erst recht nicht.

Warnen und Beschwichtigen

Nun gibt es allerdings, was Krisen betrifft, zwei scheinbar entgegengesetzte Arten der Skepsis, die warnende und die beschwichtigende. Die warnende Skepsis, wie sie im Vorfeld von Finanzkrise oder Eurokrise angebracht gewesen wäre, stellt sich den Leichtfertigen entgegen, die beschwichtigende den Besorgten. Analytisch gibt es keinen Unterschied zwischen beiden Arten – in jedem Fall untersucht Skepsis die Qualität von Argumenten und Diskussionen, und in jedem Fall gerät sie mit Überzeugungen in Konflikt. Psychologisch und soziologisch gesehen besteht dagegen eine Asymmetrie.

Die warnende Skepsis wird entweder mit Erheiterung im Mainstream der Optimisten zur Kenntnis genommen oder sie bleibt unbeachtet oder sie wird selbst zum Mainstream und wächst sich zu einer kollektiven Welle der Angst aus, die berechtigt oder unbegründet sein kann, besonnen oder panisch, entschlossen oder fatalistisch.

Die beschwichtigende Skepsis dagegen provoziert Unmut, Feindschaft und Verbotsbestrebungen, geboren aus der Entrüstung der Alarmierten. Zwar gehört Skepsis zum normalen Handwerk der Moderne, doch sobald sie Risiko- und Krisendiskurse hinterfragt, sobald also beschwichtigende Skepsis auf warnende trifft, wird sie aus der Sicht der Alarmierten zum bedrohlichen Vorkommnis. Warnende Skeptiker bleiben Mitglieder der Gemeinde, ob man sie belächelt oder nicht, beschwichtigenden Skeptikern jedoch droht die Exkommunikation, wenn die Gemeinde erst einmal alarmiert ist. Dann ist ihnen der Vorwurf sträflichen Leichtsinns gewiss. In dieser Ausgrenzung bezeugt sich allerdings ein fundamentales Missverständnis: Beschwichtigende Skepsis bedeutet nicht Schönreden oder den Kopf in den Sand stecken, sie bedeutet Ernstnehmen und genaues Hinsehen.

Oft wird warnende Skepsis als Hysterie pathologisiert und die beschwichtigende als Verdrängung. Das polemische Vokabular mag angebracht sein oder nicht, sachdienlich ist es auf keinen Fall. So verwandeln sich Diskurse in Diffamierungswettkämpfe, deren ewig gleiches Drehbuch jeden um Klärung Bemühten unendlich langweilt. Dass Skepsis schnell in ein bloßes Hin und Her zwischen Offensive und Defensive umschlägt, in Machtspiel und Gefühlsaufruhr, beweist aber nicht die Untauglichkeit des Prinzips, sondern nur das Versagen der Debattenredner. Die Perversionen der Skepsis verkehren ihr Anliegen ins Gegenteil, aber das Anliegen bleibt bestehen.

Immer, wenn es darum geht, ein Stück weiter zu kommen, ist warnende Skepsis am Platz. Und immer steckt man im gleichen Dilemma. Einerseits: Was man auch tut, es kann grundfalsch sein. Andererseits: Wer prinzipiell dem Zweifel nachgibt, kommt niemals weiter. Niklas Luhmann sagt es mit einem Satz: „Es gibt kein risikofreies Verhalten.“

Wer auf eine Warnung hört, riskiert einen entgangenen Gewinn; wer auf eine Beschwichtigung hört, riskiert einen Schaden. Allgemein läuft Beschwichtigung immer auf die Versicherung hinaus, eine behauptete Gefahr werde übertrieben. Bläst man daraufhin den Alarm ab, so kann man sich in einem fatalen Irrtum befinden, der Vermögensverluste, Umweltkatastrophen, Pandemien, Kriege oder Mega-Unfälle nach sich zieht. Deshalb irritiert beschwichtigende Skepsis die Alarmierten meist viel stärker als warnende Skepsis die Optimisten.

Die aktuelle Diskreditierung der Skepsis

In den letzten Jahren wurde der Begriff Skepsis zu einer Sammelbezeichnung für Zynismus, Bösartigkeit, Sich-Blöd-Stellen wider besseres Wissen, Trägheit und Doppelmoral. Gemeint war dabei immer nur die beschwichtigende Skepsis. Wenn es brennt, so das Argument, geht es um schnelle Hilfe, und wer mutwillig mit seinem Auto die Feuerwehrausfahrt blockiert, kann nicht mit Sanftmut rechnen. Das Beste, Wertvollste scheint den Gegnern der Skepsis doppelt bedroht. In ihren Augen wird Skepsis zur zweiten, völlig überflüssigen Gefahr, mit der sie sich zu allem Übel nun auch noch herumschlagen müssen. Die erste Gefahr sehen sie in der akuten Bedrohung, die zweite Gefahr im Zweifel am kommenden Unheil.

Durch die Geschichte der Skepsis gleich welcher Art zieht sich eine lange Spur von Spott, Verärgerung, Erbitterung, Wut und moralischer Entrüstung. Immer bedeutet Skepsis Sand im Getriebe, ihr „Moment mal!“ stellt sich dem Lauf der Dinge entgegen. Optimisten verdirbt Skepsis die gute Laune, Alarmierte sehen ihren Rettungsplan gefährdet. Beide Typen optieren lediglich für entgegengesetzte Lösungen im Dilemma zwischen Gefahr und Stillstand. Denk- oder Redeverbote befreien von Belästigung, doch dieses Dilemma, das die Moderne wie ein Schatten begleitet, schaffen sie nicht aus der Welt. In jeder neuen Lage ist neu zu diskutieren.

Diktaturen oder Gottesstaaten ersticken alle Skepsis im Keim. Aufgeklärte moderne Gesellschaften gehen in die entgegengesetzte Richtung. Im Kräfteparallelogramm der öffentlichen Urteilsbildung darf hier die Stimme derer nicht fehlen, die auf dem Unterschied zwischen Vermutung und Wahrheit bestehen. Ginge es nur um Fragen wie beispielsweise die, ob ein Apfel auf dem Tisch liegt oder nicht, bräuchte man über diesen Unterschied nicht zu reden. Wenn aber von Krisen die Rede ist, gibt es selten bloß die schlichten, unbezweifelbaren Fakten, die jeder sehen kann, der seine Augen und Ohren aufmacht. Der Ölteppich im Golf von Mexiko war die Ausnahme, die Ungewissheit über die Langfristfolgen der alles Bisherige übersteigenden Finanzhilfen in der Eurokrise 2010 ist die Regel. Von unsicheren Annahmen zum unbezweifelten Wissen ist es psychisch nur ein kleiner, kaum merklicher Schritt, erkenntnistheoretisch gesehen ist es ein Weltensprung.

Darauf hinzuweisen, ist das Geschäft der Skepsis – und das ist nervtötend für alle Beteiligten. Zugegeben: Manchmal gleicht die Skepsis tatsächlich dem Auto in der Feuerwehrausfahrt. Ja, es gibt sie, die unproduktive, destruktive Skepsis. Sie pervertiert die ursprüngliche Idee. Wer immer nein sagt, ist unglaubwürdig. Das ist aber kein Grund, die Idee über Bord zu werfen. Es kommt darauf an, sie richtig einzusetzen.

Die Moderne ist beides: eine Kultur der Krisen und eine Kultur der Freiheit. Gedankenfreiheit hat aber eine positive und eine negative Seite, sie impliziert sowohl das Aufbauende wie auch die Skepsis. Damit droht die Moderne in Widerspruch zu sich selbst zu geraten, denn Krisenerfahrung und Krisenangst wenden sich gegen die Skepsis. Andererseits wird die Skepsis dringend gebraucht, um mit den unvermeidlichen Krisen fertig zu werden.

Das Mündel will Vormund sein

Also Skepsis gegenüber der Skepsis? Löst sich damit nicht das ganze Projekt des Zweifels in nichts auf? Wer soll sich da noch auskennen? Richtig: Wir haben ja unsere Experten – sollen die doch den Job machen! Was bleibt uns übrig, als ihnen zu vertrauen? Doch was so alternativlos erscheint, ist in Wahrheit das Fanal einer Massenflucht vor der Mühsal der Aufklärung, die Kant mit Worten von unnachahmlicher Wucht attackierte:

„Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Theil der Menschen … den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.

Die Idee einer Delegation des Selbstdenkens an professionelle Dienstleister der Aufklärung beschreibt die gegenwärtig häufigste Form der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Was, rufen die Präzeptoren, das Mündel will Vormund sein? Doch die Kernidee der Aufklärung war die Abschaffung von Vormundschaftsverhältnissen. So gerne sich die einen über die anderen erheben, und so gerne sich auf der anderen Seite viele unterordnen, die Aufklärung hatte eine ganz andere, oft in schierer Verunsicherung endende Form der Herrschaft im Sinn: die Herrschaft von Regeln ohne Ansehen der Person, ob Nobelpreisträger oder nicht.

Die Geschichte der Aufklärung ist auch eine Geschichte von Rückfällen im Zeichen des Fortschritts, von Regelvergessenheit unter Berufung auf die Autorität der Methoden, von Interessenbestimmtheit im Tarnanzug lauterster Sachdienlichkeit. Nichts trübt den Blick auf die eigenen Irrtümer mehr als der Kampf gegen die unterstellten Irrtümer der anderen. Am Ende geraten die ebenso unvermeidlichen wie ungewissen Voraussetzungen der eigenen Positionen im laufenden Geschäft des Begründens, Verteidigens und Durchsetzens allmählich in Vergessenheit.

Gerade unser Wissen über Krisen und Risiken beruht, weit stärker als anderes Wissen, auf unsicheren Annahmen. Es steht am Ende eines ertasteten Pfads durch ein Labyrinth mit vielen Verzweigungen. Unmöglich, ohne Ermessensentscheidungen vorwärts zu kommen. Oft muss man seinen Weg zwischen gleich wahrscheinlichen, aber entgegensetzten Alternativen suchen und Wissenslücken durch bloße Postulate füllen. Schließlich gelangt man zu einem Deutungsversuch, gegründet auf Modelle, bruchstückhafte Beobachtungen und kühne Hypothesen.

Gerät dieser Deutungsversuch nun aber in die Öffentlichkeit, wird er auf Kongressen präsentiert, von den Medien inszeniert, von der Wirtschaft instrumentalisiert und von der Politik implementiert, ist nichts unerwünschter als die Erinnerung an seine Entstehungsgeschichte. Schnell fällt die Fragwürdigkeit des herrschenden Modells einem kollektiven Gedächtnisschwund anheim. Auf wundersame Weise wird anfängliche Ungewissheit zum scheinbar sicheren Wissen und abwägendes Denken zum Herauspicken der Rosinen: Nur solche Argumente gelten als genießbar, die das sichere Wissen stützen.

Objektivitätstümelei

Dieses Buch bezweifelt keineswegs die Notwendigkeit von Krisendiskursen, sondern stellt die Frage nach ihrer Qualität. Dafür gibt es einen einfachen Gradmesser, auf den ich mehrfach zurückkommen werde: die stets gefährdete Selbstbeobachtung der Diskursteilnehmer. Wissen sie, was sie tun, wenn sie über Krisen reden? Wollen sie es überhaupt wissen? Kultivieren sie vernünftige Regeln, denen sich alle unterwerfen? Lassen sie zu, was sie am meisten ärgert und gleichzeitig am meisten voranbringt – Gegenargumente, Zweifel, Kritik?

Die Moral der Krisenkommunikation, gemessen an solchen Fragen, ist im selben Maß gefährdet, wie das Beschwören von Krisen und Risiken zunimmt, das Vorhersagen, Kommentieren, Planen, Organisieren, Institutionalisieren, Vorschreiben und Verbieten. Wie eine ansteckende Krankheit breitet sich eine Geisteshaltung aus, die nach Jahrhunderten philosophischer Mühen besiegt schien, die Objektivitätstümelei. „Die Fakten liegen auf dem Tisch!“ „Der unbezweifelbare Beweis ist erbracht!“ „Das sind keine Vermutungen, das sind objektive wissenschaftliche Ergebnisse!“ Objektivitätstümelei besteht in einer Kombination von Amnesie und Phantasie. Die Befallenen vergessen die stets diskussionswürdigen Voraussetzungen ihres Wissens und bilden sich ein, die Wirklichkeit unmittelbar sehen zu können. Paul Watzlawick, der lächelnde Verunsicherer aller Überzeugten, sah in dieser Geisteshaltung eine gefährliche Wahnidee. Ansteckend ist sie, weil sie ihre Verbreiter durchsetzungsstark macht. Im Diskurs gewinnen die Objektivitätsillusionisten meist gegen die Skeptiker, denn sie sehen sich im Besitz sicheren Wissens.

Der folgende Essay lädt zu einer anderen Betrachtungsweise ein: zur skeptischen Neugier, zur erkenntniskritischen Distanz und zur Prüfung der Frage, wie groß hier eigentlich der Schritt vom Tragischen zum Komischen ist. Es gibt unbequeme Wahrheiten von der Art, wie sie manche Krisendiagnostiker verbreiten, und es gibt den unbequemen Blick auf die Krisendiagnostiker selbst. So ungebührlich dieser Blick denen scheinen mag, auf die er fällt, so sehr braucht man ihn doch, sobald jemand behauptet, die Wahrheit zu kennen. Objektivitätstümelei vergisst den Umstand, dass es meist keine Sicherheit gibt. Wenn sich die Experten weltweit in dem Glauben bestärken, ihre Theorie sei ein unbezweifelbares Abbild der objektiven Wirklichkeit; wenn sie ihren Konsens für einen schlagenden Beweis halten statt für einen Anlass zum Zweifel; wenn Skeptiker als Leugner angeprangert werden – dann ist es an der Zeit, sich an Karl Poppers Satz zu erinnern: Alles Wissen ist Vermutungswissen.

„Ja, natürlich“, sagen daraufhin alle am Diskurs Beteiligten, „das ist doch nichts Neues für uns.“ Doch halten sie sich daran? In diesem Buch trete ich für die Besinnung auf den Vermutungscharakter des Wissens ein, vor allem dann, wenn damit folgenreiche und kostspielige politische Entscheidungen begründet werden, zu denen es vielleicht bessere Alternativen gibt. Es ist ein Plädoyer für die Vorläufigkeit und gegen endgültige Überzeugungen.

Dabei wird es mehr um die Art und Weise des Redens über Krisen gehen als um die Krisen selbst: Unter welchen Voraussetzungen sprechen wir von einer Krise? Welche Denkoperationen setzt das voraus? Worauf einigen wir uns, nachdem wir das Für und Wider erwogen haben? Wird diese Einigung von Zeit zu Zeit einer kritischen Prüfung unterzogen? Solche Fragen sind lästig, aber sie sind produktiv, gerade angesichts einer Erdbevölkerung von bald sieben Milliarden Menschen. Es ist durchaus richtig, dass wir keine Zeit zu verlieren haben – vor allem nicht mit Diskursen, in denen die Pose der Gewissheit keineswegs als Verstoß gegen die kommunikative Vernunft angeprangert wird, sondern als Ausdruck des richtigen Gesinnung gilt.

Was ist mit Krise gemeint?

Krise ist wohl eines der am häufigsten verwendeten Wörter in den Nachrichten und Kommentaren unserer Zeit. Kann man also annehmen, dass alle wissen, wovon die Rede ist? Mitnichten, wie der Vergleich mit anderen Begriffen zeigt. Machen Sie selbst die Probe, bitten Sie jemand, Ihnen nacheinander die Bedeutung von Auto, Kaugummi und Krise zu erklären. „Ein Auto ist ein Fahrzeug mit vier Rädern, das sich mit Hilfe eines Motors fortbewegt. Ein Kaugummi ist eine Art Bonbon mit Aroma, der sich beim Kauen nicht auflöst – irgendwann hat man ein Problem, ihn loszuwerden. Eine Krise ist … unter einer Krise versteht man … Ja, also so etwas wie die Finanzkrise eben.“ Alle reden von Krise, aber kaum jemand kann spontan angeben, was genau gemeint ist. Trotzdem verwendet jeder den Ausdruck mit großer Selbstverständlichkeit und kontextübergreifend. Es ist von ökonomischen, politischen, demographischen und ökologischen Krisen die Rede, von Psychokrisen, Beziehungskrisen und Gesundheitskrisen. Man spricht darüber, verwendet den Begriff, jeder weiß Bescheid und doch bringt die Bitte um eine Umschreibung oder Definition die meisten in Erklärungsnot.

Gerade die Verschiedenartigkeit der Kontexte, auf die wir den Begriff Krise mit schlafwandlerischer Sicherheit anwenden, hilft uns bei dem Versuch, hinter seine Bedeutung zu kommen. Was haben die verschiedenen Kontexte gemeinsam? Samt und sonders handelt es sich um Wirklichkeitsbereiche, bei denen es einen normalen Gang der Dinge gibt, oder bei denen wir uns das zumindest vorstellen. Krise: damit ist regelmäßig gemeint, dass das Normale aussetzt, nicht nur ganz kurz, sondern für längere Zeit. Ein Wutanfall ist noch keine Psychokrise, ein heißer Sommer bedeutet noch keine Klimakrise, und wenn zwei Partner sich mal streiten, ist das ebenfalls noch im Normbereich – eine Beziehungskrise sieht anders aus.

Nun ist schon klarer, was mit Krise gemeint ist, aber das Wichtigste fehlt noch: Was ist eigentlich das Normale? Wie denken wir es? Welches Bild entsteht in unserem Kopf, wenn jemand erzählt, in seiner Beziehung sei alles normal? Beziehungen sind verschieden, „normal“ kann also unendlich viel heißen. Trotzdem, eines weiß man: Was auch immer geschehen mag, es wiederholt sich.

Dies schließt ein kleines Universum ein, nicht nur das tägliche Leeren des Briefkastens. In einer Partnerschaft haben wir es mit einem ganzen Bündel sich wiederholender Episoden zu tun: Aufgabenverteilung, Essensrituale, Urlaubsrituale, Liebesrituale, Rollendifferenzierung, Sprachmuster, Scherzmuster und vieles andere. All dies ist aufeinander abgestimmt, vorhersagbar, stabil für lange Zeit – bis eine Krise kommt, ausgelöst durch die üblichen Verdächtigen: Langeweile, Ungerechtigkeit, Vernachlässigung, Fremdgehen oder alles zusammen. Alles wird von der Beziehungskrise erfasst – der Morgenkaffee, die Arbeitsteilung, das ungezwungene Gespräch. Meist gehen die Partner aber nicht gleich auseinander, sie versuchen es noch einmal, sie hoffen, dass alles wieder vorbeigeht und das stotternde Uhrwerk wieder rund läuft.

Allerdings kann auch die Störung einer Beziehung „normal“ werden und sich wiederholen. Im Krisenbegriff geht es nicht bloß um das Normale an sich, immer schwingt auch eine Unterscheidung zwischen wünschenswerten und pathologischen Wiederholungen mit. Krisendiskurse haben immer sowohl eine empirische wie eine normative Komponente.

Von Krise spricht man also bei einer Störung wiederholter, ineinander greifender Abläufe, und meist verbindet sich damit die Hoffnung auf Besserung und Rückkehr zu einem akzeptierten, gewünschten Normalzustand. Allerdings ist Zustand ein etwas irreführender Begriff, weil nichts Statisches gemeint ist, sondern ein Hin und Her, ein Fließen und aufeinander Reagieren, ein regelmäßiges Zusammenspiel.

Diesen Krisenbegriff kann jeder auch auf sich selbst als Einzelperson anwenden: auf den Körper mit seinen vielen untereinander verknüpften Funktionen oder auf das Bewusstsein im Wachzustand, vorzustellen als Interaktion von Sinneseindrücken, Sichtweisen, Begriffen, Sprache, Gedanken, Gefühlen und Botenstoffen. Manche sehen Körper und Bewusstsein als System, manche als Maschine, manche als Hardware und Software. Mit solche Metaphern machen wir uns für uns selbst begreiflich; sie sind Modelle, aus denen wir ableiten, ob überhaupt eine Krise vorliegt, woran sie zu erkennen ist, was sie herbeigeführt hat und wie wir sie überwinden können. All das zusammen macht das Krisenwissen aus – ein ebenso kompliziertes wie fehleranfälliges Konstrukt.

Wenn es um unseren Körper geht, greifen wir auf eindeutige und erfolgreiche Vorstellungen von Normalität und Krise zurück. Solche körpergeprägten Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit wenden viele jedoch auch auf Wirtschaft, Finanzmarkt, politische Kultur, Klima, Bevölkerung, Epidemien, Zweierbeziehungen und anderes an. Aber geht das überhaupt? Die Paarbeziehung als Körper, Maschine, System, Hardware und Software? Und erst die großen kollektiven Zusammenhänge oder das Klima: Wer hier von Krise redet, muss sagen können, was er für normal hält. Mit einem Körpermodell wird er nicht weit kommen. „Aber die Krise spricht doch für sich!“ Ja, das denken viele, aber es ist falsch.

In Krisendiskursen entsteht leicht ein Resonanzraum für Rechthaber, deren kognitiver Überlegenheitsanspruch auf erkenntnistheoretischer Einfalt und wechselseitigem Schulterklopfen beruht. Die scheinbar banale Frage, was denn eigentlich normal sei, geht im Marktgeschrei unter. Theorien des Normalen werden behandelt, als wären sie nicht der Rede wert, doch gerade sie sind besonders voraussetzungsvolle und fehleranfällige Konstruktionen. Am undurchsichtigsten sind ausgerechnet die großen Systeme, ausgerechnet sie, die taumelnden, gigantischen Ausgeburten der Moderne, von denen wir uns auf Gedeih und Verderb abhängig gemacht haben.

Der Alltagsverstand muss dazulernen

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs überraschte Stefan Zweig während eines Sommeraufenthalts an der belgischen Küste. Am Strand lagerten Menschen aus ganz Europa und genossen Sonne und Wind. Mit einer Mischung von Belustigung und Schrecken sah Zweig, der zusammen mit Freunden im Café saß, plötzlich eine merkwürdige Prozession, die sich zwischen den Strandurlaubern hindurchschlängelte: Vorneweg ein Gespann von Schäferhunden, die ein Maschinengewehr auf Rädern zogen, dahinter einige Soldaten. Sie waren dabei, in den Verteidigungsanlagen an der Küste Stellung zu beziehen. Das konnte nur bedeuten, dass der Kriegsausbruch unmittelbar bevorstand. Niemand am Strand von Le Coq nahe bei Ostende schien sich an diesem Nachmittag Ende Juli 1914 von dieser Szene stören zu lassen, jeder setzte fort, was er gerade machte. Am nächsten Tagen aber waren die Züge überfüllt, alle fuhren Hals über Kopf nach Hause.

Nur allmählich begriffen die Menschen verschiedener Nationalität, dass sie von jetzt an Feinde waren. Die meisten von ihnen, so Zweig, wussten gar nicht mehr, was dies bedeutete. Der letzte große Krieg in Europa – der von 1870/71 zwischen Preußen und Frankreich – lag über vierzig Jahre zurück. In der kurzen Zeit zwischen den Schüssen von Sarajewo und dem Kriegsausbruch waren die Zeitungen zwar voll von Berichten über diplomatische Spannungen, doch daran waren die Menschen gewöhnt – es würde schon zu irgendeiner Lösung kommen. Sie hatten nicht genug Kriegsangst; sie waren nicht alarmiert genug; sie konnten sich nichts Anderes vorstellen, als dass alles so weitergehen würde, wie sie es in den vergangenen Jahrzehnten kennengelernt hatten. So erklärt es sich, dass sie seelenruhig an die Küste gefahren waren, um den Sommer am Strand zu verbringen; so könnte sich auch die Welle nationaler Euphorie bei Kriegseintritt erklären. Arglos, ja naiv ließen sich die Europäer in die große traumatische Erfahrung am Anfang des 20. Jahrhunderts hineinziehen.

Der erste Weltkrieg war eine Krise des Systems internationaler Beziehungen, die sich bald auch auf andere Systeme ausweitete – Wirtschaft, Währung, Finanzmarkt, öffentliche Ordnung, Produktion, Versorgung, Transportwesen. Für die Menschen wurde jede einzelne dieser Systemkrisen im Alltag als Lebensweltkrise spürbar. Die Männer waren an der Front, Lebensmittel wurden rationiert, das Geld war nichts mehr wert, Unruhen brachen aus.

Mit dem Begriffspaar von System und Lebenswelt lehne ich mich an Jürgen Habermas an, der damit seinerseits eine lange soziologische Tradition fortsetzt. System und Lebenswelt sind Formen des Normalen, wie etwa auch Organismen oder Maschinen. Was sie davon unterscheidet, ist der Umstand, dass sie aus dem gemeinsamen Willen von Menschen hervorgehen. Soziale Konstruktionen sind jedoch unberechenbarer und krisenanfälliger als biologische oder technische Konstruktionen.

Über die großen sozialen Systeme wissen die meisten kaum mehr, als dass es sie gibt. Viele von ihnen sind erst in der Moderne entstanden. Sie bereichern die Lebenswelt der Menschen zwar um ungeahnte Möglichkeiten, aber nur so lange, wie sie funktionieren. Ihre Krisen können sich zu massenhaften privaten Katastrophen auswachsen.

In der von Stefan Zweig geschilderten Szene wird die Berührung von System und Lebenswelt auf unheimliche Weise sichtbar, in der Regel aber vergisst man die Zweidimensionalität seines Alltags völlig. Man lebt in seiner Wohnung, hat Familie, trifft sich mit Freunden, geht einkaufen, arbeitet und führt den Hund spazieren. Aber wenn man sich dabei für ein zwei Euro fünfzig eine Currywurst kauft, denkt man nicht daran, dass dies nur möglich ist, weil gleich mehrere große Räderwerke weit jenseits des persönlichen Erfahrungshorizonts zusammenwirken: etwa der Markt für Lebensmittel, das Transportwesen, die Aufsichtsbehörden. Die Abhängigkeit der Currywurst von großen Systemen würde den Konsumenten schnell klar, wenn auch nur eines davon versagte, etwa die Europäische Zentralbank, sollte sie mit ihrer Geldpolitik eine Hyperinflation anheizen.

In der Lebenswelt kennt jeder jeden, in den Systemen herrscht Anonymität; in der Lebenswelt kann jeder Einfluss nehmen, in den Systemen führen die Experten; die Lebenswelt erfährt man unmittelbar, über die Systeme liest man etwas in der Zeitung; die Lebenswelt betrifft den ganzen Alltag, die Systeme haben sich auf jeweils einen Hauptzweck spezialisiert.

Die großen Systeme kamen mit der Moderne. Seitdem leben wir in zwei Welten, doch nur für die Lebenswelt sind wir kognitiv ohne besondere Vorbereitung ausgerüstet. Die geistigen Mittel, die wir brauchen, um uns in ihr zu bewegen, sind uns teils in die Wiege gelegt, teils erwerben wir sie im Alltag. Um dagegen mit den Systemen klarzukommen, müssen wir in jeder Generation von neuem nachlernen. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, dass Systeme in vieler Hinsicht unserer lebensweltlich geschulten Intuition zuwider laufen. Wer sie verstehen will, muss seine alltäglichen Wahrnehmungsmuster gegen den Strich bürsten.

Untersuchen wir dies etwa am Beispiel der Wirtschaft. In der Lebenswelt spart man Geld, wenn man nur gebrauchte Kleider kauft, im System hätte dies den Niedergang der Textilbranche zur Folge. Umgekehrt kann Geldausgeben im System zur multiplen Geldvermehrung führen. Die Befremdung unserer Alltagserfahrung setzt sich fort mit dem Teilen und Verteilen: In der Lebenswelt der Familie kommt man am besten mit einer Art friedlichem Kommunismus aus, doch im Wirtschaftssystem haben sich Privateigentum und Markt als weit überlegen erwiesen. Besonders schwer zu verstehen ist die entgegengesetzte Bedeutung der Knappheit: In der Lebenswelt ist Mangel ein Problem und Sättigung die Lösung, im System ist es umgekehrt – ungestillte Bedürfnisse sind aus der Systemperspektive ökonomische Ressourcen, die Bedürfnislosigkeit aller wäre der Ruin.

Von den vielen Unterschieden zwischen Lebenswelt und System ist der moralische besonders schwer nachzuvollziehen. In der Lebenswelt rangiert Altruismus vor Eigennutz, zu Recht. In der Wirtschaft dagegen geht es allen umso besser, je eigennütziger sich jeder einzelne Akteur verhält – unter einer Voraussetzung: dass Marktregeln und staatliche Kontrolle diesem Eigennutz feste Grenzen setzen. Wer den Satz akzeptiert, dass die Lebenswelt auf eine prosperierende Wirtschaft angewiesen ist, kann sich kaum der Einsicht entziehen, dass der lebensweltlich beste Wille im System der Wirtschaft zum schlechtesten Ergebnis führen kann. So wuchs sich die große Depression der 1930er Jahre erst richtig zur Katastrophe aus, als die Regierungen begannen, die Bevölkerung mit protektionistischen Maßnahmen zu „schützen“, was zu einem drastischen Rückgang des Welthandels und zu millionenfacher Arbeitslosigkeit führte. Lebensweltliche Moral kann auf der Systemebene in Unmoral umschlagen, und umgekehrt kann im System moralisch geboten sein, was in der Lebenswelt als unmoralisch gilt.

Vielen Menschen erscheinen Systeme kalt, undurchschaubar, zerstörerisch, unmenschlich und ästhetisch so ansprechend wie ein Autobahnknotenpunkt. Wie schön ist dagegen die Lebenswelt: warm, gemütlich und vertraut wie der Geruch von selbst gebackenen Weihnachtsplätzchen. Die Lebenswelt liebt man, die Systeme benutzt man.

Systemkrisen wie Kriege, Wirtschaftskrisen, Umweltkrisen, Störfälle mit Breitenwirkung, Bevölkerungskrisen oder Pandemien betreffen viele Menschen gleichzeitig; wer sie beschreiben, erklären, vermeiden oder eindämmen will, muss umfassende, überpersönliche Phänomene und Zusammenhänge in den Blick nehmen. Solche Krisen überschreiten den alltäglichen Erfahrungshorizont eines einzelnen Menschen bei weitem.

Dagegen betreffen Lebensweltkrisen wie Krankheiten, Todesfälle, Beziehungskrisen, Nachbarschaftskonflikte oder Arbeitslosigkeit den Einzelnen unmittelbar. Ein Erkenntnisproblem wie bei Systemkrisen gibt es meist gar nicht; die Betroffenen spüren die Lebensweltkrise hautnah als Abweichung vom gewohnten Gang der Dinge. Ihr Alltag, ihre Normalität gerät aus dem Gleichgewicht. Daran leiden sie, irgendwo auf der Skala zwischen verärgert und verzweifelt. Verärgert ist man, wenn man sich verabredet hat und sitzen gelassen wird. Verzweifelt ist man, wenn die Familie zerbricht oder wenn man seine gesamten Ersparnisse verliert. Wie auch immer, das leidende Subjekt ist das Zentrum jeder Lebensweltkrise.

Systemkrisen dagegen bestehen in der Abweichung von einer zu definierenden Normalität ohne Subjekt: von normalen politischen Beziehungen der Nationen in Europa beispielsweise, vom normalen Weltklima, von normalen Wirtschaftsbeziehungen, von der normalen Bevölkerungsdynamik. Für Systemkrisen braucht man andere Blickwinkel und andere Wissenschaften als für Lebensweltkrisen: Hier Klimaforschung, Bevölkerungswissenschaft, Epidemiologie, Nationalökonomie, Statistik; dort Medizin, Psychologie und soziologisches Alltagsverstehen. Über Lebensweltkrisen ist man sich schnell im Klaren, während sich Systemkrisen dem intuitiven Urteil entziehen.

Systemkrisen sind wichtig, weil sie die Lebenswelt von Millionen betreffen; und sie sind schwierig, weil ihnen das ungeschulte Alltagsdenken nicht gewachsen ist. Das 20. Jahrhundert mit seinen beiden Weltkriegen, seinen Hyperinflationen und Weltwirtschaftskrisen hat allerdings Spuren in den Köpfen hinterlassen. Systembewusstsein, Systemvorsicht und Sehnsucht nach Systemstabilität sind inzwischen weit verbreitet. Damit ist ein neuer, öffentlicher Resonanzraum für Diskurse über Systemkrisen entstanden. Dass es sich dabei um ein neues Phänomen handelt, sieht man an der Unausgereiftheit dieser Diskurse. Was so gut wie immer dabei fehlt, ist ein Diskurs über den Diskurs – ein Meta-Diskurs. So kommt es, dass über große Systeme meist so gesprochen wird, als wären sie Lebenswelten, Organismen oder Maschinen. Am Beispiel der großen Systeme zeigt sich jedoch: Das Normale ist vielfältig, und seine Krisen verlangen nach reflektierten, auf mehreren Ebenen geführten Diskursen.

Krise und Risiko

Dieses Buch beschäftigt sich teils mit schon eingetretenen Krisen, teils mit dem behaupteten Risiko einer Krise. Beide Begriffe – Krise und Risiko – gehören eng zusammen, meinen aber nicht dasselbe. Unter Risiko verstehe ich die befürchteten negativen Folgen eines Tuns oder Unterlassens, unter Krise die Störung des Normalen. Wodurch unterscheiden sich nun die beiden Begriffe? Und wie hängen sie zusammen?

Erstens: Risiko geht von der Ursachenseite aus und fragt nach den Wirkungen: Da ist das Medikament, wozu kann es führen? Da ist das Atomkraftwerk, wird es uns ins Unglück stürzen? Krise geht von der Wirkungsseite aus und fragt nach der Ursache: Ich bin krank, aber wie ist es dazu gekommen? Die Weltwirtschaft lahmt – wie haben wir uns das eingebrockt? Zweitens: Krise setzt das Normale als Bezugsrahmen voraus, Risiko nicht notwendig. Es gibt riskante Börsengeschäfte, riskante politische Entscheidungen (etwa über Militäreinsätze) oder riskante technische Innovationen. Bei jedem dieser Beispiele lässt sich das Risiko beschreiben, ohne auf ein Normalitätsmodell zurückzugreifen. Drittens: Risikodiskurse werden typischerweise vorher geführt, wenn noch gar nichts passiert ist, Krisendiskurse typischerweise nachher, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Viertens: Nichts ist ohne Risiko, alles und jedes kann zum Thema von Risikodebatten werden. Krisen dagegen sind in ihrem jeweiligen Normalitätskontext tendenziell seltene Ereignisse, allerdings gibt es mit voranschreitender Moderne immer mehr krisengefährdete Systeme und eine Krise jagt die andere.

Fazit: Beide Begriffe bezeichnen Verschiedenes, aber sie sind benachbart und werden oft in Verbindung gebracht – dann nämlich, wenn es um das Risiko einer Krise geht. Auf diesen Spezialfall werde ich in diesem Buch oft zu sprechen kommen.

Krisenwissen ist konstruiert

Der Film „Auf des Messers Schneide“ von Lee Tamahori aus dem Jahr 1997 entwickelt seinen Plot aus einer denkbar eindeutigen Krisensituation heraus: Nach einem Flugzeugabsturz in einen See irgendwo im Niemandsland des nördlichen Kanada können sich drei Männer retten. Sie stehen am Ufer, es ist kalt, sie haben nichts zu essen und bald kommt die Nacht. Wie können sie mit dieser Situation fertig werden? Eine heftige Diskussion bricht los. Sollen sie sich nicht von Fleck rühren? Nein, entscheiden sie, das wäre der sichere Tod. Also losmarschieren – aber wohin? Wegen der dichten Wolkendecke können sie die Himmelsrichtung nicht bestimmen. Einer von ihnen behauptet, die Nord-Süd-Richtung lasse sich mittels einer durch Reibung magnetisierten Büroklammer herausfinden. Sie beschließen, auf diesen Anhaltspunkt zu setzen. Aber welche Richtung sollen sie wählen, wenn sie nicht wissen, wo sie Hilfe finden können? Schließlich legen sie sich auf eine Richtung fest und gehen einfach los, weil sie das verzweifelte Gefühl haben, irgendetwas tun zu müssen. Am nächsten Tag stellen sie fest, dass sie im Kreis gegangen sind; die Nadel war durch die metallische Gürtelschnalle des Mannes abgelenkt, der die Führung übernommen hatte.

Das Beispiel zeigt, wie sich Ungewissheit und Gefühl in der Krise mischen und zu manchmal verzweifelten Konstruktionen führen. Aber was wäre kein Fehler gewesen? Die Ungewissheit bremst, die Angst drängt. Man braucht starke Nerven, um beides gleichzeitig auszuhalten. Leicht setzt sich die Angst durch, sie giert nach sicherem Rettungswissen, und wenn keines zur Verfügung steht, schafft sie sich eines. So wird der Wunsch zum Vater des Gedankens.

Bei einer Massenkarambolage auf der Autobahn mit Toten und Schwerverletzten muss man sich mit der Konstruiertheit von Krisenwissen nicht lange aufhalten. Eine so weitgehende Evidenz des Ernstfalls, die jede Diskussion überflüssig macht, ist aber die Ausnahme. Im Regelfall gilt: Irrtümer bei der Beurteilung einer Krisensituation sind möglich, wahrscheinlich, unvermeidlich. Jeder der großen Krisendiskurse unserer Zeit ist ein Nährboden für Fehlentscheidungen: Finanzmarkt, Klima, Energieversorgung, Demografie, Terrorismus, Pandemien, Weltwirtschaft und andere.

Man muss konstruieren, sich mit Ermessensentscheidungen behelfen und Unsicherheit in Kauf nehmen. Wer aber deshalb irgendeine Erörterung bleiben ließe und die Hände in den Schoß legte, wäre im Irrtum über die Grenzen des Denkens – und über die Erfolge, die trotzdem erreichbar sind. Gerade dann, wenn vieles unklar ist, braucht man eine Diskussion auf hohem Niveau. Nur so nutzen wir die uns gegebenen Chancen, nur so maximieren wir die Wahrscheinlichkeit, dass trotz aller Ungewissheit etwas herauskommt: eine Deutung, die als Grundlage von Maßnahmen dienen kann. Dass es sich bei einer solchen Deutung ja auch um eine Konstruktion handelt, taugt nicht als Einwand. Wonach sonst sollen wir uns denn richten?

Beobachtung der Beobachtung. Das Modell der zwei Etagen

Krisentheorien und Risikoabschätzungen sind komplexe geistige Gebilde, Teil der Selbsterhaltungsstrategien von Lebewesen, deren Existenz nicht Instinkte sichern, sondern Denken und vorausschauender Verstand. Wo wären wir ohne unsere Sorgen und Vorsichtsmaßnahmen? Wir wären nicht vorhanden. Andererseits sind wir nur deshalb so weit gekommen, weil wir es lernten, unser Denken reflexiv auch auf uns selbst zu beziehen und es mit Hilfe vernünftiger Regeln zu kultivieren.

Erreichen die kleinen und großen Krisendiskurse der Gegenwart dieses Niveau? Teils ja, teils nein. Bedenklich stimmt, dass sich in einigen dieser Diskurse allmählich geistige Immunsysteme herausbilden. Kritische, relativierende Argumente werden angegriffen wie Bakterien durch Helferzellen. Solche Abwehrreaktionen sollen die Durchschlagskraft von Krisenbotschaften erhöhen – auf die Dauer bewirken sie das Gegenteil.

Bei Krisenbotschaften ist nicht nur ihr Inhalt interessant. Ebenso muss man ihre Begründung und ihre impliziten Annahmen prüfen, es sei denn, man befindet sich im Auge des Taifuns oder auf einem gerade untergehenden Schiff. Wenn genug Zeit bleibt, verdient das Wie des Forschens, Denkens und Redens mindestens genauso viel Aufmerksamkeit als das Was – so lehren uns Sozialpsychologie, Soziologie, Geschichte und Philosophie. Die Art und Weise der Entstehung und Weiterentwicklung von Wissen entscheidet über die Glaubwürdigkeit der Inhalte.

Oberste Tugend beim Versuch der Annäherung an die Wahrheit ist die kühle, distanzierte Selbstbeobachtung nach anerkannten, gemeinsamen Kriterien. Wir können die Art und Weise prüfen, wie wir miteinander reden. Wir können versuchen, uns ein eigenes Urteil zu bilden. Und wir können versuchen nachzuvollziehen, wie wir zu diesem Urteil gekommen sind, uns also Klarheit über unsere Wahrnehmungsmuster zu verschaffen. Diese Worte klingen fast schon weihevoll und rauschen schnell vorbei. Halten wir sie fest. Was folg aus ihnen?

Vor allem brauchen wir gutes Denken und gute Kommunikation. Es ist kein Beinbruch, wenn Menschen verschiedener Meinung sind, im Gegenteil. Denken alle gleich, haben sich alle nichts zu sagen. Neues kann man nur voneinander lernen, wenn jeder seinen eigenen Kopf und sein besonderes Wissen hat. Fast überflüssig zu erwähnen, dass dies nur unter bestimmten Voraussetzungen funktioniert: Jeder hört dem anderen zu; keiner übt Druck aus; alle richten sich nach den Regeln. Im Paradies der herrschaftsfreien Diskurse, wie Jürgen Habermas solche Auseinandersetzungen genannt hat, tauscht man Argumente aus, redet vernünftig miteinander und sucht gemeinsam nach der besten Lösung. Dass dies nicht so langweilig ist, wie es sich anhört, weiß jeder, der es schon einmal erleben durfte – so etwas kommt tatsächlich hin und wieder vor, allerdings eher im Privatleben: Man missversteht sich nicht absichtlich; man beleidigt einander nicht; man intrigiert nicht gegeneinander; man greift sich nicht persönlich an; man bemüht sich um gute Begründungen. Wer nicht nach diesen Regeln spielt, schließt sich selbst von der Diskussion aus, jedenfalls philosophisch gesehen. Realistischerweise muss man hinzusetzen: Oft redet so jemand trotzdem weiter, und die anderen lassen ihn gewähren.

In vielen öffentlichen Diskursen ist Letzteres die Regel; oft scheint der Kodex des herrschaftsfreien Diskurses geradezu ins Gegenteil verkehrt. Beispiele in Serie liefern politische Talkshows im Fernsehen. Es gibt auch Gegenbeispiele, doch lassen diese den Normalfall nur umso krasser hervortreten: Die Teilnehmer diffamieren einander und überschreien sich; sachliche, in Ruhe vorgetragene Beiträge werden unterbrochen; der Moderator oder die Moderatorin heuchelt Offenheit und betreibt Manipulation; die eingespielten Filme suggerieren Generalisierbarkeit, wo es sich um tendenziös inszenierte Einzelfälle handelt; das Publikum im Studio klatscht; die Quoten sind beachtlich.

Das Beispiel der Talkshows führt nur einige der Störfaktoren vor Augen, die herrschaftsfreie Diskurse zum Absturz bringen können. Kritiker prangern oft die Emotionalisierung der Medien an, aber welche Emotionen sind es denn konkret, die hier die Regie übernehmen? Jeder kennt die typischen Gefühle von sich selbst: Wir mögen ans Herz gehende Geschichten. Wir haben es lieber einfach als kompliziert. Wir wollen zum Lachen gebracht werden und schätzen gute Pointen. Wir begeistern uns für Siegertypen und ihre charismatischen Auftritte. Wir bewundern Schlagfertigkeit. Wir fühlen uns wohl, wenn wir zur Mehrheit gehören. Wir werden ein paar Zentimeter größer, wenn wir uns als Parteigänger des Guten im Kampf gegen das Schlechte erleben können. Wir lassen uns gerne in unseren Ansichten bestätigen und tun uns schwer mit Kritik. Wir mögen keine offenen Fragen, keine Ungewissheit, keine Grauzonen.

Wer solche Gefühle aus eigener Erfahrung kennt, hat deshalb noch lange keinen schlechten Charakter – er ist ein normaler Mensch. Allerdings hat keines dieser Gefühle auch nur das Mindeste mit der Klärung von Sachfragen zu tun. Wenn sich bei Fragen der Finanzmarktregulierung, der Stabilisierung der Europäischen Union oder der Energiepolitik Gefühle der beschriebenen Art einmengen, kann zwar trotzdem etwas Richtiges herauskommen, aber die Wahrscheinlichkeit ist viel geringer, als wenn man es versteht, sie herauszuhalten. Solche Gefühle suggerieren Richtigkeit, obwohl sie sachlich vollkommen bedeutungslos sind.

Nun sind aber gerade Krisendiskurse anfällig für Emotionen. Nicht umsonst drehen sich Talkshows oft um große Krisen. Man könnte typische Talkshows für eine Art von Karnevalsveranstaltung halten, für ein humoristisches öffentliches Ritual, nach dessen Beendigung sich alle die Zähne putzen und ins Bett gehen, um sich am nächsten Tag wieder dem Ernst des Lebens zuzuwenden, hätte sich Emotionalisierung nicht allmählich als legitime Kommunikationsstrategie etabliert. Dieser Zustand schreckt davon ab, überhaupt noch eine sachliche Diskussion zu fordern. Wer dies tut, muss befürchten, als herzloser Kopfmensch, wenn nicht als Zyniker beschimpft zu werden, erst recht, wenn er angebliche Gewissheiten in Frage stellt.

Doch was soll schlecht daran sein, Ungewissheit als solche zu bezeichnen? Was soll gut daran sein, Zweifel zu unterdrücken? Zugegeben, das sind abstrakte Themen angesichts konkreter Gefahren. Aber so ist das eben mit der Moderne. Hier sollen Selbstbeobachtung, Selbstkontrolle und Sachlichkeit regieren, sofern es um den Austausch von Argumenten geht. Dieses Diskursniveau ist stets gefährdet: durch Gefühle, Machtansprüche, Eitelkeit, Eigennutz und durch die Verführungskraft von Inszenierungen, Rhetorik und großen Erzählungen. Um Argumente gegen solche Rauchschwaden zu schützen, bleibt nichts anderes übrig, als immer wieder neben das Getümmel zu treten und von außen darauf zu sehen, ausgestattet mit dem kühlen Blick der Regelkontrolle und der Abwägung. Die nur uns Menschen gegebene Fähigkeit, auf das zu schauen, was wir tun, philosophisch ausgedrückt die Trennung von operativer Ebene und Meta-Ebene, wurde in der Moderne wie in keiner anderen Kultur ausgefeilt und verallgemeinert.

Im Rauch der großen Krisenrhetorik besteht die erste und wahrscheinlichste Gefahr nun darin, dass die Grundhaltung der reflexiven Moderne durch einen lautstark proklamierten Notstandskonsens außer Kraft gesetzt wird. Zuwiderhandlungen werden mit Ächtung bestraft. Es ist doch längst alles geklärt, schallt es jedem entgegen, der von der Meta-Ebene aus stört. Wir müssen so rasch wie möglich handeln, wir haben keine Zeit für Debatten. So wird ausgerechnet die wichtigste Form der Reflexivität diffamiert, jene nämlich, die sich mit der Qualität der Reflexion beschäftigt.

Damit taucht, um das räumliche Bild der verschiedenen Ebenen zu nutzen, eine zweite Meta-Ebene über der ersten auf, gewissermaßen eine zweite Etage der Erkenntnis. Auf der ersten Meta-Ebene laufen die Diskurse über große Krisen ab, hier geht es etwa um Finanzmarkt, Klima, Euro oder Demographie. Hier beobachten und beurteilen die Diskursteilnehmer Derivatehandel und Leerverkäufe, CO-2-Emissionen, Kreditbürgschaften und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dies ist moderne Selbstbeobachtung, aber damit ist es nicht genug. Was in einem Krisendiskurs geschieht, bedarf seinerseits der Beobachtung. Experten, Politiker, Medienleute und Repräsentanten von Institutionen mögen dies als störend empfinden, als Beschmutzung ihrer besten Absichten, als Geringschätzung ihrer Arbeit, als Einmischung von Unbefugten. Aber die reflexive Moderne ist keine Party. Wer ihre Vorteile will, muss auch ihre unangenehmen Begleiterscheinungen in Kauf nehmen. Die größte Gefahr, die der Moderne droht, ist die Losung „Ende der Debatte!“. Sie verriegelt den Zugang zur zweiten Meta-Ebene, und damit gerät die erste Meta-Ebene außer Kontrolle: Freie Fahrt für Emotionen, Macht, Rechthaberei und Eigennutz, getarnt als Sachzwang und moralisches Gebot der Stunde.

Selbstironie ist Bürgerpflicht

Am Schluss dieses Kapitels räume ich drei Defizite ein: Nichts bringt uns schneller voran als die Skepsis, aber niemand kann sagen, wann genau sie absurd wird. Ungewissheit ist unser Schicksal, aber handeln müssen wir trotzdem. Die Ideale der Diskursethik überzeugen, aber sie überfordern uns.

Mit diesen Schwächen muss jeder zurechtkommen, nicht nur bei den anderen, sondern vor allem auch bei sich selbst. Jeder ist auf die Nachsicht der anderen angewiesen und die anderen auf seine – das ist nur recht und billig. Leider zählt dieser Satz ebenfalls zu den Idealen der Diskursethik, die uns überfordern.

Andererseits: Die Welt wird besser, wenn man sich über seine eigene Unvollkommenheit im Klaren ist und wenigstens tut, was man kann. Dabei hilft einem auch die Nachsicht sich selbst gegenüber. Selbstironie ist Bürgerpflicht – sich einzugestehen, dass man seinen Ansprüchen nicht gerecht wird, und es trotzdem zu versuchen.